Dr. Klaus Heer

Schaffhauser Nachrichten vom 1. Dezember 2017
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«Der Klumpfuss der Liebe»

Die Kerzen leuchten, der Truthahn duftet, die Geschenke sind verpackt – und plötzlich wird lautstark gestritten. Der Paartherapeut Klaus Heer darüber, was Weihnachten mit Beziehungen, Erwartungen und der Liebe macht.

VON ALEXA SCHERRER & RONJA BOLLINGER
Klaus Heer, Weihnachten, das Fest der Liebe und Harmonie. Genau zu diesem friedvollen Fest wird Geschirr zerschlagen und dreckige Wäsche gewaschen. Woher kommt dieser Gegensatz?
Klaus Heer: Das ist kein Gegensatz. Beides gehört zusammen. Im Alltag hält man als Paar die Liebe auf Diät, hat Wichtigeres zu tun, lässt sie hungern bis zur Anorexie. Und an Weihnachten will man sich vollstopfen.

Mit Liebe?
Heer: Nein, nicht mit Liebe – mit Sehnsucht nach Liebe. Das ist nicht das Gleiche. Die Sehnsucht nach Liebe ist sogar eher das Gegenteil von Liebe. Das ist Abhängigkeit. Ich bin abhängig von jemandem, der da ist, mich versteht, mich füttert mit dem, wonach ich hungere. Das ist nicht Liebe, das sieht nur danach aus. Und Weihnachten ist der Anlass, an dem wir feiern, dass wir so unersättlich sind und das in doppelter Hinsicht. Wir sind gefrässig und stopfen uns gerne voll, sowohl mit dem ungesunden Quark, den uns der Grossverteiler unterjubelt, als auch mit dem, von welchem wir denken, dass es uns fehlt: Zuwendung und Zuneigung.

Also gibt es keinen schlechteren Zeitpunkt, über Beziehungen zu sprechen, als an Weihnachten?
Heer: Sprechen ist das Ungemütlichste in Beziehungen. Das Kommunizieren über die eigene Beziehung ist genau genommen der Klumpfuss der Liebe. Mit einem Klumpfuss ist man schlecht dran. Man denkt, wenn man über alles redet, werde es besser. Aber das widerspricht der gesamten Erfahrung, die man 364 Tage im Jahr macht. Unsinnig ist die Hoffnung, am 365. Tag werde es auf magische Weise anders. In der Vorweihnachtszeit hat man so viel zu tun, die Orchestrierung der Familienfeste liegt einem auf dem Magen, der Kopf explodiert fast – jetzt will man zusätzlich über all das reden, worüber man das ganze Jahr geschwiegen hat. Das Resultat: nicht Nähe, sondern Reibung. So kommt es gerne zum grossen Weihnachtsknall. An Heiligabend hat man natürlich keine Ressourcen für irgendwelche Beziehungsgespräche. Da gibt es nur eins: Gring abe u düre.

Heisst das, man soll an den restlichen 364 Tagen vermehrt über die Beziehung sprechen, oder halten Sie das Reden generell für überbewertet?
Heer: Nicht für überbewertet, sondern für falsch. Es geht nicht ums Reden, sondern ums aufeinander Hören. Denn Streit ist so definiert: Beide reden, aber niemand ist da, der zuhören will und kann. Das erlebe ich in meinem Beruf täglich. Ich sehe, dass Paare jede Menge reden, und dann kommen sie zu mir, und ich bin der Einzige, der zuhört.

Oft hat man als Paar verschiedene Vorstellungen von Weihnachten. Ihm sagt das Fest vielleicht nicht so viel, für sie geht ohne 5-Gänge-Menü, Champagner, opulent dekorierte Stube und Sex auf dem Bärenfell vor dem Kamin gar nichts. Wie weit soll man sich um des lieben Friedens willen verbiegen?
Heer: Es ist am 24. Dezember ja nicht zum ersten Mal Weihnachten. Das wiederholt sich doch jedes Jahr. Man kann also rechtzeitig einander sagen, was man möchte und was nicht und was man im Vergleich zum Vorjahr verändern möchte.

Dann sollte man aber Kompromisse eingehen?
Heer: Kompromiss ist ein hässliches Wort. Beziehung heisst, sich entgegenkommen – und sich entgegenkommen heisst lieben. Im Wort Beziehung steckt ja schon das Wort «ziehen». Man zieht zwar am selben Strick, aber gern an dessen entgegengesetzten Enden. Es geht immer darum, auszuhandeln, was mit ungleichen Bedürfnissen geschehen soll, das ist ein fester Bestandteil der Liebe.

Kommen wir zu einer praxisnahen Frage, bei der Streit oft vorprogrammiert ist. Wenn ein Paar von vornherein vereinbart, sich nichts zu schenken – hält man sich dann daran?
Heer: Das nenne ich Beziehungsdisziplin. Wenn ich ein passabler Partner sein möchte, sollte ich mich an eine solche Abmachung halten. Und wenn Vereinbarungen erfahrungsgemäss wackelig sind, dann muss man es halt schriftlich festhalten, in einem Vertrag. Will man länger als drei Wochen zusammenleben, muss man unbedingt verbindlich und verlässlich sein. Speziell in Sachen Weihnachten setzt man sich besser einfach zusammen und bespricht das. Wenn man eine Familie hat, redet man gleich mit allen. Jeder kann dann Vorschläge machen, wie es gehandhabt werden soll. Und merke: Konkrete Vorschläge sind da besser als dornige Vorwürfe.

Der Baum ist perfekt geschmückt, die Tischdekoration macht jedem Werbekatalogbild Konkurrenz, so glücklich wie wir ist kein anderes Paar. Auf jeden Fall soll das die Instagram- und Facebook-Gemeinde so sehen. Was macht das mit meiner Beziehung?
Heer: Dafür braucht es keinen Fachmann. Am besten fragt man seinen Partner, ob er es toll findet, wenn das gemeinsame Glück auf Facebook vorgeführt wird.
Woher kommt aber der Drang, sein Glück – ob vermeintlich oder nicht – öffentlich präsentieren zu wollen, anstatt einfach nur den Moment zu geniessen?
Heer: Es gibt Menschen, für die ein solcher Austausch und ein solches Zeigen wichtig sind. Das kann natürlich ein überschwappender Ausdruck des eigenen Glücks sein. Wenn man glücklich ist – oder auch wenn man es nur meint –, will man das anderen mitteilen. Das verstärkt das Glücksgefühl. Umgekehrt funktioniert das genauso. Ein unglücklicher Mensch ist froh, wenn jemand da ist, der Anteil nimmt.

Um bei der Digitalisierung zu bleiben: Besonders bei der jüngeren Generation hat man das Gefühl, alles müsse immer schnell gehen – und auch sehr schnell austauschbar sein. Waren Beziehungen früher beständiger als heute?
Heer: Es ist kurzsichtig, über steigende Scheidungsraten zu jammern. Denn die Quote sagt gleichzeitig auch, dass der Anteil derjenigen Paare, die freiwillig zusammenbleiben, steigt. Früher gab es massenhaft Eheleute, die gar nicht mehr zusammensein wollten. Heute ist die Trennung demokratisiert. Wer lange zusammenbleibt, der hat gelernt, mit den vorhandenen Scheidungsgründen zu leben. Denn jedes Paar muss mit seinem Scheidungsgrund zurechtkommen, oder mit zweien. So etwas fällt einem natürlich in der Trunkenheit des Verliebtseins noch nicht auf. Aber glauben Sie mir, die Gründe zeigen sich, sobald man ausgenüchtert ist.

Also hat sich an der Beständigkeit von Beziehungen nichts geändert. Entweder es funktioniert – oder eben nicht.
Heer: Was sich bestimmt nicht geändert hat, ist die Zumutung, die man füreinander bedeutet, sobald man zusammen ist. Sobald man sich liebt, wird man auch schwierig füreinander. Die grosse Verliebtheit erschöpft sich im globalen Durchschnitt nach 90 Tagen. Ab dann ist man füreinander immer wieder eine Zumutung. Das kann man drehen und wenden, wie man will.

90 Tage Verliebtsein, und dann geht es nur noch darum, ob man sich das für den Rest des Lebens zumuten will oder nicht? Ernüchternd.
Heer: Das ist jetzt tatsächlich etwas bösartig zugespitzt. Nach dieser Phase der grossen Gefühle habe ich die Pflicht, herauszufinden, inwiefern ich für meinen Partner eine Zumutung bin. Welche Zumutung der andere für mich ist, schmiert er mir ja von Zeit zu Zeit gratis aufs Brot, das kommt ganz von selbst. Aber was er über mich denkt, will ich nicht hören. Wenn sich beide Partner überlegen, inwiefern sie eine Zumutung für den anderen sind und aktiv etwas an sich selber ändern wollen, kann es funktionieren. Wenn nicht, resultiert entweder die kriegstreiberische Form der Entfremdung, die laut und heftig ist, oder aber die stumpfe Variante des Kalten Krieges – dort gehe ich aktiv allem aus dem Weg, was schwierig werden könnte. Man lenkt sich mit allem Möglichen ab, um sein Schweigen nicht brechen zu müssen.

Zurück zu Weihnachten. Zu dieser Zeit kann Alleinsein zur Qual werden. Es gibt heute unzählige Möglichkeiten, jemanden im Internet kennenzulernen. Tun wir uns einen Gefallen damit, unser Jagdgebiet für potenzielle Partner um die unendlichen Weiten des Digitalen zu erweitern?
Heer: Wir stellen uns doch vor, dass uns das Internet das Finden eines Partners erleichtern könnte. Darum floriert das Onlinedating so üppig. Da ist ein riesiger Markt von paarungsbereiten Menschen, die sich über diese digitalen Dienste kennenlernen. Egal, ob ich mir jemanden im Internet oder im Turnverein anlache oder ob mir mein Vater sagt, wen ich heiraten könnte oder sollte: Es kommt auf dasselbe heraus. Ich spreche natürlich nicht von Zwangsehen, sondern von Vorschlägen der Eltern, einen guten Partner zu finden. Wissen Sie, man überschätzt massiv, dass die Liebe als Grund zur Heirat so gescheit sei. Das ist auf Sand gebaut.

Eine Heirat aus Liebe ist kein Vorteil?
Heer: Nein, ein Nachteil. Denn Liebe verwechselt man gern mit der Wirkung von Hormonen.

Also rational an die Sache herangehen?
Heer: Wenn Sie länger als drei Wochen oder drei Jahre zusammenbleiben möchten, müssen Sie mit der Zeit eine Vernunftbeziehung entwickeln. Eine Vernunftbeziehung mit Herz. Sonst schaffen Sie es nicht. Dann bleibt Ihnen noch der Notausgang der Scheidung, oder Sie warten darauf, dass der andere stirbt. Oder Sie selbst.

Noch einmal zum Klarstellen: nie heiraten, solange man noch verliebt ist?
Heer: Am Schluss machen die Leute sowieso, was sie wollen. Sie heiraten wann und wen Sie wollen, natürlich. Ratschläge sind witzlos. Wenn man sich der Illusion der Liebe – dieser Begeisterung im Kopf und zwischen den Beinen – hingibt und deshalb heiratet, hat man es anschliessend schwer. Schwerer, als wenn man die Liebe etwas nüchterner angeht. Der Hormondruck lässt irgendwann nach, schneller, als einem lieb ist. Das Bedrohlichste für eine Beziehung sind Illusionen. Etwa die Illusion, dass die Harmonie genau wunschgemäss aufleuchtet, just in time. Solche Wunschträume machen uns unglücklich – gerade auch an Weihnachten.
© Dr. Klaus Heer: Psychologe – Paartherapeut – Autor