Dr. Klaus Heer

Wege 3/2013
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«Lustverlust im Liebesleben. Er(Be)Kenntnisse eines Paartherapeuten»

Adam und Eva hatten es gut. Sie konnten ganz neu starten, weil sie noch nichts wussten. Sie hatten noch keine Wörter wie Sexualität oder Lust, um zu bezeichnen, was zwischen ihnen los war. Sie brauchten auch keine geilen Bilder oder sexuelle Fantasien im Kopf, um sich in Fahrt zu bringen. Und «Lustverlust», dieses charmante kleine Palindrom, kam in ihrer Welt natürlich gar nicht vor. Weder von hinten noch von vorn. Denn was man nicht hat, das kann man auch nicht verlieren.

Damals im Paradies war alles ganz einfach – nah, weich und warm, stark und geheimnisvoll. Und es duftete fein. Das zweisame Sein zum Greifen nah. Unspektakulär, unaufgeregt. Es fehlte nichts, und am wenigsten die Lust auf Lust. Die hatte hier gar nichts verloren.

Gewiss hat sich heute, im 21. Jahrhundert, gegenüber dem Paradies einiges verändert. Aber sobald sich Mann und Frau nahe kommen, ist es eigentlich immer noch ähnlich, wie bei unserem Prototypenpaar.
Meine Klientenpaare wollen mich jedoch regelmässig vom Gegenteil überzeugen. Und es gelingt ihnen auch. Wir von der Therapeutenliga sind ja wirtschaftlich darauf angewiesen, dass es den «Lustverlust» eben doch gibt. Laut WHO soll er sogar epidemisch am Grassieren sein. F52.0 heißt die kassenpflichtige Leistungsgruppe in der ICD-10-Klassifikation psychischer Störungen: «Mangel oder Verlust von sexuellem Verlangen» nennt sich das. Und die dazugehörigen diagnostischen Kriterien klingen auch nicht gerade paradiesisch. Ein Diagnose-Zitat aus der ICD-10 lautet zum Beispiel: «Der Mangel oder der Verlust des sexuellen Verlangens äussert sich in einer Verminderung von Suchen nach sexuellen Reizen, von Denken an Sex mit entsprechendem Wunsch oder Verlangen und von sexuellen Fantasien.» Übersetzt soll das heißen: «Sexuell in Ordnung bin ich, wenn ich ausreichend Sex im Kopf habe.» Was dabei «ausreichend» ist, legen die WHO-Beamten fest, «wie häufig» wir Sex haben sollten (egal ob im Koitus- oder im Selbstbedienungsmodus) ebenfalls.

Und das ist erst das Vorspiel. F52.1 bis F52.9 listen dann auch noch all die vielen möglichen technischen Ausfälle auf, die ein geschmiertes Funktionieren auf der Matratze verunmöglichen. Nämlich zum Beispiel: Der Mann bleibt schlapp und mickrig; oder die Frau ist vertrocknet und blass da unten, wenn sie «eine angenehme Immissio des Penis ermöglichen» sollte. Oder die Ejakulation (meist Orgasmus genannt) kommt zu früh oder viel zu früh (kann also partout nicht mindestens 15 Sekunden ab Immissio warten) oder im Gegenteil, der Orgasmus kommt zu spät oder gar nicht, oder zu schwach, oder nur im Schlaf undsoweiter.

Kaum zu glauben, was und noch viel mehr dergleichen tatsächlich hier steht! Und ich erlaube mir die Mutmassung:

Wir haben genau die Weltgesundheitsorganisation, die wir verdienen. Diese Kategorie F52 entspricht genau den eigenartigen Ideen über Sexualität, die wir alle in unseren Frontallappen spazieren führen. Ja, auch wir Therapeutenmänner und -Frauen. Wenn unsere KlientInnen sagen «Unser Sex klappt nicht mehr», legen wir unsere Stirn in empathische Falten. Aber wer bitteschön kann Lust haben auf einen gesunden störungsfreien WHO-Sex, der «klappen» muss? Dazu kommt, dass die Beschwerde ja immer ungleich verteilt ist. Paare, die sagen «Ach Gott, wir haben BEIDE keine Lust mehr auf Sex, bitte helfen Sie uns» bekommen wir Therapeuten so gut wie nie zu Gesicht, weil’s denen viel zu gut geht. Statt beim Sex schwitzen diese Leute beim anspruchsvollen gemeinsamen Bergwandern. Oder sie sitzen gemeinsam in der Oper. Oder sie verwandeln in jahrelanger gemeinsamer Arbeit eine Cevennen-Ruine in ein schickes, kleines südfranzösisches Ferien-Juwel. Oder sie vergnügen sich sonst wie vegetarisch.

Nein, die meisten Beziehungswirklichkeiten sind viel komplizierter: «Eigentlich hätten wir allen Grund glücklich zu sein. Wir haben alles, was wir brauchen, haben wunderbare Kinder und so. Aber beim Sex läuft’s halt gar nicht.» Entweder Er will und Sie kann nicht. Oder Sie will und Er kann nicht. Ich hab’s inzwischen aufgegeben verstehen zu wollen, was hier vorgeht zwischen den beiden. Ich frage mich, ob sie tatsächlich nicht wissen, dass es vermutlich kein einziges längerlebiges Paar gibt, dem es gelänge, seine sexuellen Bedürfnisse dauerhaft zu koordinieren, zu synchronisieren, zu kalibrieren? Hat sich das wirklich noch nicht herumgesprochen? Und wie kommt es, dass zwei Leute, die sich lieben, in ein solches Lustgefälle kippen können? «Nie begehrst du mich!» zischt es auf der einen Seite. «immer setzt du mich unter Druck!» auf der anderen. Sie führen das häusliche Drama mit verteilten Rollen auf. Einer fordert, der andere verweigert. Es eskaliert und die Liebe buddelt sich ein. Die Sonne geht unter. Es wird kühl.

Ihr merkt, ich werde ziemlich emotional, wenn ich das beschreibe. Und ich bin dabei so pathetisch und hilflos wie meine Klienten, weil ich deren Sicht übernehme, weil auch ich mir vorstelle, wie’s sein sollte. Das ist der Grund, warum ich in meiner Praxis ähnlich ineffizient bin mit diesen Problemen, wie diese Leute miteinander im Bett. Ich glaube, sie zur Vernunft bringen zu sollen, aber es geht nicht. Sie haben halt dort, wo gewöhnlich die Vernunft sitzt, etwas installiert, was sich nicht so einfach abmontieren oder deleten lässt – nämlich die Überzeugung, Zweisamkeit sei dann und nur dann geglückt, wenn beide Lust aufeinander hätten, gleichviel Lust, kompatible Lust.

Blöde Frage: Lust auf den Partner haben – was ist das? Nun, Lust auf, das ist so etwas wie eine Fantasie. Wer Lust auf hat, stellt sich etwas Schönes vor. Etwas Attraktives, etwas Scharfes vielleicht sogar. Nicht dass er sich das Scharfe scharf vorstellte. Eher diffus und verschwommen. Verschwommen genital. Sentimental sehnsüchtig im Kopf, mit Ausläufern bis hinunter zum Schritt natürlich...

Lust auf gehört heutzutage selbstverständlich zu einer intakten, glücklichen Beziehung, wie Mann (und manchmal auch Frau) sie sich immer vorgestellt hat und unbeirrt weiter vor- stellt. Die Lust auf zeigt doch meine Liebe an. Ich begehre, also liebe ich. Was für eine genüssliche, aber wahngetrübte Illusion!

Seien wir doch ehrlich: Bei der Lust auf ist heute vorzugsweise eine verdrehte Männersexromantik am Werk. Dicke Internetpipelines versorgen fast alle Haushalte mit hochaufgelöstem HighSpeed-Porno-Material. Millionen von sexbedürftigen Männern mästen ihre Lust auf mit Bildern von vollscharfen jungen Frauen und normieren damit ihre sexuelle Fantasie auf den landläufigen Durchschnittsmännersexgeschmack. Die Bilderfluten überschwemmen und ertränken den heimischen Liebeskontakt innerhalb der Beziehung und heizen gleichzeitig die Lust auf an. Nicht etwa die Lust auf die konkrete Partnerin zu Hause. Nein, die Lust auf das, was Mann gesehen hat auf dem Bildschirm – und was einem die eigene Frau gerade nicht zu bieten bereit ist. Den Koitus in den Enddarm zum Beispiel oder das Sperma in die Mimik und in die Kehle mögen nur ganz wenige richtige Frauen. Die digitalen Damen hingegen sind alle hingerissen davon. Kein Wunder also, dass die Frauen in der Reihenhaussiedlung immer mehr unter Druck kommen. Und überhaupt ist unser ganzer Alltag voll von Bildern, wie Frau auszusehen hat, damit sie bei Mann in die Kränze kommt. Also auch bei ihrem eigenen Mann. Das alles schafft sie nie. Ihre Lust auf schwindet.

Mann und Frau von heute haben’s nicht leicht im Vergleich zu Adam und Eva im Garten Eden. Sie wissen viel zu viel über Sex, Lust und Liebe und darüber, wie’s sein müsste im Bett. Sie wissen alle, dass man Lust auf Sex haben muss, unermüdlich, wenn man ein normales Paar sein will. Sie sehnen sich nach dem gesunden Weltgesundheitsorganisationssex. Ja, natürlich auch die Frau, nicht nur der Mann! Es stimmt nicht, dass Frauen immer nur kuscheln wollen. Sie wollen genau wie ihr Mann Lust auf haben. Lust auf Sex mit Herz vielleicht oder so ähnlich. Aber es geht einfach nicht.

Dahinter kauert zusätzlich das unheimliche Bangen zweier Liebender um das Überleben ihrer Liebe. Lustlos ist für heutige Männer und Frauen ein Synonym für lieblos. Sie meinen, an der Lust auf kann man am besten ablesen, dass man sich noch liebt. Lustlos ist lieblos ist leblos. Was für eine kompakte ideologische Front!

Unter Druck oder Zwang Lust auf irgendwas zu haben, geht nicht. Das wissen wir alle ganz genau, und natürlich auch wir von der therapeutischen Zunft. Wenn dann die Leute mit ihrem kassentauglichen Lustverlust zu uns kommen (sprich mit «F52.0: Mangel oder Verlust an sexuellem Verlangen») und traurig darüber oder sauer aufeinander sind, dann sind wir Fachleute meist innen etwas verlegen und hilflos, lassen es uns aber außen nicht anmerken. Weil eigentlich sind wir selbst genauso ratlos.

Und jetzt kommt Post von Seneca dem Jüngeren. Sein berühmter Satz «Den größten Reichtum hat, wer arm an Begierden ist», könnte nämlich sinngemäß etwa so lauten: «Salvete, Leute! Was soll das? Warum seid ihr so übel gelaunt? Warum jammert ihr über den Verlust an ,Lust auf? Seid ihr denn blind? Seht ihr nicht, wie euch diese ,Lust auf’ mit Ballast belastet? Das, was ihr da ‚Lustverlust’ nennt, ist aus meiner Stoiker-Erfahrung ein GEWINN! Mit freundlichem Gruß aus der Antike, Lucius Annaeus Seneca.»...

Also wäre F52.0 ein Gewinn? Lustverlust ein Segen? Libidoschwäche eine Wucht? Das wäre weiss Gott ein unverhofftes Reframing. Ein ausgewachsener Paradigmenwechsel wäre das. Wie hätten wir uns das denn vorzustellen, wenn wir besorgten Lusthelfer nicht stracks hingingen und so täten, als hätten wir das Knowhow, um das lendenlahme Begehren zu flicken?

Bleibt mir also nichts anderes übrig, als von meinen eigenen Erfahrungen zu reden. Ich fang mal gleich mit dem Peinlichsten an: Vor dreizehn Jahren war ich überzeugt, dass die Sexualität der Leute kaum oder gar nicht lustvoll sein kann, wenn sie sich so stumm abspielt wie bei den Tieren. Also schrieb ich ein (wirklich erfolgreiches) Beratungsbuch, in dem ich eine aktive, ja beinahe hyperaktive Fluchthilfe aus der Sprachlosigkeit im Bett präsentierte. Denn wer «WonneWorte» (s. Infos) liest, bekommt zusätzlich mannigfache Gelegenheit, Zutreffendes anzukreuzen, Fragen zu beantworten, allerhand Impulse und Spiele auszuprobieren, sich auf Gespräche einzulassen undsoweiter. Ich war wirklich fleissig und voller begeisterter Fantasie.

Was ist das Peinliche an dem Buch, das sich doch so gut verkaufte? Nun, ich hatte schon länger die vage Vermutung, dass die LeserInnen von interaktiven Beratungsbüchern nie die Übungen machen, die ihnen die Autoren ans Herz legen. In der vergangenen Dekade wurde meine Ahnung beinahe zur Gewissheit: Niemand, weder die Lustgetriebenen noch die Unlustgeplagten, wird auch nur ein wenig lustvoller und glücklicher mit Hilfe eines Besserwisserbuches. Ist doch klar! Denn natürlich bringt mehr oder besser wissen niemandem das verlorene Paradies näher oder zurück. Ganz im Gegenteil: Wissen ist nicht lustfördernd! Lust kann man gar nicht fördern. Der Lustverlust lässt sich nicht wegmachen.

Peinlich genug, wie lange es gedauert hat, bis ich das beinah Offensichtliche sehen wollte. Vor 39 Jahren, als ich meine Praxisarbeit mit Klientenpaaren begann, war so etwas wie das Goldene Zeitalter von freier Lust und Leidenschaft in allen Köpfen. Endlich durfte man, was man schon immer wollte. Und wer den spontanen Sprung ins obligatorische Lustparadies nicht selber schaffte, für den gab es zu jener Zeit potente professionelle Hilfe und Abhilfe.
Und seither kümmern sich viele, viele namhafte Fachleute darum, und das Thema Machbarkeit der Lust liegt in der Luft wie ein nicht enden wollendes kontinentales Hochdruckgebiet. Die Methoden sind inzwischen wesentlich ausgeklügelter, raffinierter und intellektuell herausfordernder, also viel weniger plump. Unversehrt ist die heitere Gewissheit der Experten, der prominenten Instituts- und Praxisleiter beiderlei Geschlechts, dass Lustverlust kein unabwendbares trübes Schicksal sein muss. Die Fallgeschichten in den Fach- und Publikumsbüchern stützen natürlich unisono die muntere Zuversicht.

Ich weiss nicht, wie’s euch geht, wenn ihr solche Beratungs-Literatur lest. Vielleicht seid ihr inzwischen auch schon enttäuscht zu Henning Mankell oder Paulo Coelho übergelaufen. Ich jedenfalls lehne mich lieber an die konkreten Erfahrungen, die ich mit den vielen lustgetrübten Paaren mache. Diese sind zu Anfang hoch motiviert und hoffnungsvoll, dass es uns dreien gelingen kann, ihren Holzweg in einen Ausweg zu wandeln. Also klären wir die Einzelheiten unserer Kooperation und erarbeiten Vereinbarungen. Meistens unscheinbare, naheliegende und liebenswürdige Vereinbarungen. Hier ein kleines Beispiel:

Ein frustriertes Paar erzählt mir, die Stimmung zu Hause sei chronisch unfreundlich, ja manchmal beinahe arktisch. In 18 Beziehungsjahren hätten sich ihre häuslichen Umgangsformen langsam zersetzt. Da komme einer von ihnen beiden nach Hause, und es gebe nicht einmal eine Begrüssung, höchstens ein zerstreutes, knappes «Hallo!» von weitem, sonst nichts.

Wir finden also gemeinsam heraus, dass ortsübliche Höflichkeit, vielleicht sogar Freundlichkeit die Lust beleben könnte. Und dies mit bescheidenem Aufwand. Nur einfach dran denken und sich klar machen, dass eine kleine rituelle Geste so etwas ist wie der schlichte, aber lebensnotwendige Herzschlag der Liebe ist. Also machen sie das miteinander aus: Ab heute nehmen wir uns jedes Mal kurz in die Arme, wenn einer von uns nach Hause kommt. Nur das, mehr nicht.

Zum Ende des Gesprächs hat sich das Klima merklich erwärmt. Und als ich dann diskret aus dem Fenster auf die Straße runter schaue, sehe ich die beiden tatsächlich Hand in Hand weg- gehen – und ich denke: Sieh mal einer an! Die unauffällige Höflichkeit ist eine Goldader der Lust, also lasset uns schürfen! Damit meine ich nicht irgendeine Lust auf irgendetwas, nein, ich meine ganz einfach die Lust jetzt, in diesem Augenblick, wo die beiden zum Parkhaus gehen – Hand in Hand, wie wahrscheinlich seit Jahren nicht mehr. Und ich meine jene Lust, wenn man bei der Wohnungstür herein- kommt, auf den anderen zugeht und ihn einen feinen Augenblick lang einfach in den Armen hält, weich und warm und wohl, sonst gar nichts. Genau wie dereinst Adam und Eva im Paradies – die auch nichts anderes wollten und begehrten als genau diesen feinen Augenblick. Also bevor die Sache kam mit der Lust auf den Apfel und alles andere.

Soweit so gut. Aber so wie die Geschichten meistens weiter gehen, bin ich versucht, zu schlussfolgern:

Wir sind nicht gemacht fürs Paradies. Meine Klientenpaare nicht, und ich auch nicht. Wenn die Zwei nämlich einen Monat später wieder bei mir sitzen, sehe ich schon an ihren Gesichtern: Die Freude aneinander hat sich wieder verflüchtigt. «Was wir hier vereinbart haben, hielt gerade mal zehn Tage, dann hatten wir einen wüsten Streit», erzählen sie dann. Oder «In letzter Zeit hatte ich einen Mordsstress im Job und konnte mich unmöglich entspannen.» Oder einer sagt: «Unsere Stimmung war nach der letzten Sitzung so gut, dass ich Lust auf Sex bekam, und das ging dann leider wieder gründlich in die Hose, wie immer.»

Wie zu erwarten war. Lust auf geht meistens in die Hose! Denn wer etwas will, was nicht IST, der hat ein Problem, sofort. Und ja, ich hab auch eins. Ich rolle dann nämlich innerlich die Augen und denke mir: Mein Gott, sehen die denn nicht, wie unglücklich sie sich machen, wenn sie ihr Glück inbrünstig dort suchen, wo es NICHT ist? Nur weil sie gehört, gelesen oder ganz früher mal selber erfahren haben, was und wie Glück ist oder sein sollte? Kurz, ich bin fast genau so unruhig und gereizt wie mein Paare, weil ich Besserwisser besser zu wissen meine als die beiden, wie sie’s machen sollten.

Aber ich weiss doch, dass einem die Lust vergeht, wenn man hinter Sex her ist. Die Lust auf löscht die Lust aus, weil dahinter der Anspruch steckt, der Sex müsse nicht nur genügend oft stattfinden, sondern auch gelingen, befriedigend, spitz, geil, schön, lieb oder harmonisch oder sonstwie sein. Das weiss ich.

Ich weiß auch, dass Wollust im Gegensatz zu Wohllust mit «h» korrosionsanfällig ist. Denn Wohlsein ist jenes paradiesische Sein, aus dem man nicht hinweg geschleift wird vom Sog des Wollens. Elfriede Jelinek weiss das offensichtlich auch und kann es viel entspannter sagen als ich:

«Liebe ist, nicht arbeiten müssen, nur da sein. Wieso genügt das keinem?»

Ebenso weiss ich, dass die Sexlust, wie alles auf Erden, der Erdanziehung gehorcht und daher unweigerlich und ganz natürlich langsam zu Boden geht – es sei denn, ein Paar erlernt die Kunst des thermischen Aufwindes, und das hätte dann mehr mit Hingabe zu tun, als mit alles richtig machen. Ich weiss auch, dass man den erotischen Fluss aus dem Korsett der fixen Ideen darüber befreien könnte, wie Sex und Liebe zu fliessen hätten. Dass dieser Fluss also renaturiert werden müsste, damit er wieder mäandern kann. So wie das vermutlich war im Paradiesgarten.

Ausserdem weiss ich etwas darüber, dass kein zwischenmenschlicher Aggregatszustand günstiger ist für die Liebe, als der Alltag. Dass wir ja genau genommen gar nichts anderes haben als unseren Alltag. Er ist doch die Summe aller Gelegenheiten, einander alltäglich lustvoll zu begegnen, ich weiss das.

Doch gerade diesen Alltag empfinden und beschreiben viele Paare als Ablöscher, der ihre Liebe zu ersticken drohe. Und sie sagen, sie hätten keine Zeit. Keine Zeit dafür, sich einmal zu massieren oder gelegentlich unter dem Esstisch zu füsseln wie früher oder sich beim Fernsehen die Hand zu geben. Für all das, was wir in unserem Gespräch zu dritt besprochen und vereinbart hatten, haben sie keine Zeit. Dabei weiss ich doch, dass Zeit der Rohstoff der Liebe ist. Viele beschweren sich auch über ihre Müdigkeit am Abend. Darum bliebe ihnen keine Energie für einander. Dann müssten sie einfach nur ins Bett fallen und schlafen, sagen sie. Ich weiss indes, was für ein unerforschter Lustgarten die gemeinsame Müdigkeit ist, die Peter Handke zärtlich die «Wir-Müdigkeit» nennt... Ach, ich glaube, ich könnte noch seitenweise fortfahren, euch aufzutischen, was ich alles weiss. Eine WEGE-füllende Wir-Müdigkeit ergäbe das hier. Außerdem weiss ich, dass uns das viele Wissen kaum weiterhilft. Euch nicht und mir auch nicht. Im Gegenteil. Vor lauter Wissenmüssen stellen wir uns dann immer vor, wie’s sein sollte und verpassen so den herben Charme des Augenblicks. Vielleicht einfach, weil wir zu feige sind, uns ohne das Wissens-Geländer im Jetzt, im Moment zu bewegen.

Niemand kann etwas wissen über den Augenblick, der gerade anbricht. Immer wieder neu. Lust auf ist hier fehl am Platz, in die Irre führend. Hinaus aus dem Paradies, und direkt hinein in die Sackgasse von F52.0. Dort treffen die gestrandeten Paare auf mich, und wir sitzen alle drei auf dem Trockenen in meiner Praxis. Weil wir träumen und albträumen von Dingen, die nicht sind oder nicht so, wie wir sie uns wünschen. Und weil wir nicht den Mut haben, aufzuwachen und zu sehen, was IST. Weil wir zu ängstlich sind, all das zu vergessen, was wir uns zäh einreden und einreden lassen über Lust und Sexualität. Über die Sexualität, die doch unsere ureigene ist. Die einzige, die wir haben. Nicht vergleichbar mit irgendeiner anderen Sexualität auf Erden. Auch nicht mit der Sexualität, die in unseren Köpfen wabert oder die aus den Büchern tröpfelt, die wir lesen oder selber schreiben. Am wenigsten zu vergleichen mit der Weltgesundheitsorganisations-Sexualität. Egal ob Liebende oder Therapeuten – wir sind immer Anfänger. Wir haben keine Ahnung. Wir brauchen sie auch nicht, die Ahnung. Sie stört nur. Das Wissen nervt erst recht. Im Ur- Mythos greifen Adam und Eva nach dem Golden Delicious vom Baum der Erkenntnis. Sie erkennen einander. Erkennen, dass sie nackt sind. Schämen sich voreinander. Verhüllen sich notdürftig mit botanischer Reizwäsche. Was für aufregende, historische Augenblicke! Keinerlei Lust auf. Aber das Erwachen der Bewusstheit. Der Start der erwachsenen Sexualität. Mehr wissen wir eigentlich nicht. Nur, dass wir einander anziehen. Wir sind Liebende, solange wir uns als die Anfänger fühlen, die wir sind. Höchste Zeit, dass ich als Therapeut das Klugscheissen lasse und der Grünschnabel werde, der ich bin.

infos & literatur


Klaus Heer, Jg. 1943, ist Psychologe und einer der renommiertesten Schweizer Paartherapeuten. Seit fast 40 Jahren arbeitet er mit Paaren in seiner Praxis und war immer auch publizistisch tätig (für Zeitungen, Magazine, Radio etc.). Er ist Autor mehrerer Bücher zum Thema Liebe, Beziehung und Sexualität.

Buchtipps:

• Ehe, Sex & Liebesmüh. Eindeutige Dokumente aus dem Innersten der Zweisamkeit von Klaus Heer (Salis Verlag, 2011)
• WonneWorte Lustvolle Entführung aus der sexuellen Sprachlosigkeit von Klaus Heer (überarbeitete Neuauflage, Salis Verlag, 2007
• Klaus Heer, was ist guter Sex? Gespräche über das beste aller Themen von Barbara Lukesch. (Wörterseh Verlag, 2009)
• Heute schon geliebt? Sexualität und Salutogenese von Rotraud A. Perner (Edition Roesner, 2012)
• Mythos Erotik: Eine Lebenskraft tritt aus dem Schatten von Ruediger Dahlke (Scorpio, 2013)

DVD-Tipp:

• SLOW SEX Der neue Stil des Liebens Film von Diana Richardson, (80 min. Innenwelt Verlag, 2012

Der Artikel basiert auf einem Vortrag von Klaus Heer bei den «Lindauer Psycho- therapiewochen 2011».
© Dr. Klaus Heer: Psychologe – Paartherapeut – Autor